Dennis oder: „Ich wusste nicht mehr, ist das noch mein Kind?“

Am 18. Juni 2023 wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung der Artikel „Ich wusste nicht mehr, ist das noch mein Kind?“ veröffentlicht, stellvertretend für das Leid vieler Kinder, Jugendlicher und ihrer Familien. Es geht um die Geschichte von Dennis, einem 11-jährigen Jungen, der als „Patient“ zwischen Fachärzten und Therapeuten hin- und hergeschoben wird, auf der Suche nach der Ursache für „etwas“, das von Schule bis sozialen Kontakten alles in Mitleidenschaft zieht. Als ich diesen Artikel las, dachte ich an die Menschen, die immer wieder zu uns kommen, die bereits alles mögliche in Bewegung gesetzt haben – aber keine echte Anlaufstelle und damit keine Besserung der (großen) Beeinträchtigung ihres Alltagslebens erreicht haben.

Alles beginnt bei Dennis mit mehreren „überproportionalen Reaktionen“, wie es nach MAP heißt: Schwindel, Stimmverlust, Schulversagen, Schulverweigerung, ununterbrochenes Zocken. Dennis´ Mutter, so der Artikel, ist hilflos in dieser Odyssee zu Fachleuten, die sich der Reihe nach als nicht zuständig herausstellen (weil sie in diesem Fall kein Experte sind): „Man kennt sich ja nicht aus, und dann wird einem das empfohlen. Also geht man da hin, und da sitzt man dann.“  – Wie sieht ein Erstgespräch in einer Therapie nach MAP aus? Für uns ist wichtig, dass insbesondere jene Daten zusammengetragen werden, die scheinbar bedeutungslos sind oder sogar ein bisschen komisch wirken; sie sind häufig ein Signal dafür, wie sich das Innere der Person ausdrückt, ohne dass der „Filter der Vernunft“ selektiert. Dies kann sich in vier verschiedenen Bereichen äußern: Physisch wie bei Dennis, psychisch, wie es sich dann zunehmend bei ihm entwickelt in Form von Gedanken, die immer wiederkommen, Schlafstörungen…. Auch Beziehungen und das Leistungsverhalten müssen unter die Lupe genommen werden. Es ist der Betroffene selbst, der seine „Subjektiv signifikante Vorgeschichte“ schreibt: Was ist eigentlich seit den 9 Monaten vor der Geburt bis auf den heutigen Tag alles in seiner/ihrer Lebenszeit vorgefallen? Und wie hat die Person die jeweiligen Situationen erlebt? Von daher der vorsichtige Begriff der „überproportionalen Reaktionen“, denn erst durch eine vertiefte Sicht der Dinge entdeckt man, was möglicherweise dahintersteht. Im Erstgespräch wird dem Betroffenen also zunächst das Tool der „Subjektiv signifikanten Vorgeschichte“ ausgehend von vielen Beispielen erläutert: Es geht darum, das Bewusstsein der Person für das ganz persönliche Erleben der eigenen Geschichte zu öffnen und nicht beim Urteil der Umgebung, das zum Teil irreführend ist, stehenzubleiben. Entscheidend ist, dass die Person, die um Begleitung für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bittet, Vertrauen fassen kann.

Insbesondere Kinder drücken sich nicht logisch, sondern symbolhaft aus. Jede Aussage hat somit eine tiefere Bedeutung, die es als Therapeut zu erfassen und zu dekodieren gilt. Im Gespräch mit den Eltern sage ich häufig, dass ich meine Arbeit wie die einer Übersetzerin verstehe: Das „störende“ oder „aus der Reihe fallende“ Verhalten des Kindes ist ein Lautsprecher für etwas ganz anderes. Kann sich der Betroffene öffnen, kommen überraschende Ergebnisse zutage. Eltern sind für diese Gespräche, die die Therapie ihres Kindes begleiten, sehr dankbar. Wie oft erlebe ich, dass sie sich orientierungslos fühlen, wie ein Spielball erst dem einen, dann dem andern Ratschlag folgen und immer mehr verlernen, auf ihre innere Stimme zu hören: „Plötzlich sehe ich meinen Sohn wieder. Sehe, wie toll er ist“, sagt die Mutter. Auch sie selbst war zuletzt nur noch in Erwartung des nächsten Angriffs.“

Dennis und seine Mutter machen auch die bittere Erfahrung: „Nach diesen wenigen Terminen steht man jedoch wieder allein da. Man weiß dann zwar vielleicht, dass das Kind eine Therapie braucht, hat aber darum noch lange keinen Platz.“Was ist das Ziel eines MAP-Coachings? Zu einer Autonomie zu führen, mit dem Angebot, dass die Person stets wiederkommen kann, wenn sie es punktuell braucht. Eine tiefe Kenntnis der eigenen Personen und ihrer Trigger bedeutet, dass es weiterhin Baustellen im Leben gibt, die es zu bearbeiten gilt, um ein glückliches Leben zu führen. In dem Maße, indem man sich immer weiter entdeckt, und zwar in seiner ganzen Fülle (nicht nur seine vermeintlich negativen Seiten), wird eine eigenständige Resilienz entwickelt, um die Herausforderungen, die das Leben bringt, mutig und effizient angehen zu können.

Der Alltag einer Familie gleicht bis dato einem Kampf: „Die Mutter versucht herauszufinden, welche Hausaufgaben er aufbekommen hat, liest ihm aus dem Deutschbuch vor. „Es war jeden Tag derselbe Kampf, das macht einen so fertig irgendwann. Man muss ja selbst auch noch arbeiten, einkaufen, den Alltag regeln.“ Die PC-Zeit wird immer länger. Wenn seine Mutter versucht, ihm den Laptop wegzunehmen, wird der Junge aggressiv, er schreit und tobt.“Wie erreicht eine Therapie nach MAP ihr Ziel? Nach MAP sind gerade bei jungen Menschen Computerspiele eine (von vielen) recovery-strategies; im Alltag ist der Energieverlust aufgrund einer subjektiv erlebten Unsicherheit so hoch, dass ein Spiel, das Gedanken und Sorgen blockieren hilft, eine große Hilfe ist: Hier ist man plötzlich sicher und fähig. Die Frage lautet also weiterhin: Was steckt dahinter? Betroffene müssen lernen, das ihr Erleben aus ihrem Inneren lesen und deuten zu können. Dies betrifft auch die Bauch- und Kopfschmerzen, unter denen Dennis leidet und dazu führen, dass er immer seltener zur Schule geht.

Die Ohnmacht der Mutter von Dennis kennt bald keine Grenzen mehr: „Es war einfach vorbei“, sagt die Mutter. Aus dem Kind ist nichts mehr herauszubekommen. „Wirst du gemobbt? Hast du Angst?“ Der Junge kann das alles nicht beantworten. „Es war, als würde er vor meinen Augen verschwinden. Wie eine Muschel, die zuklappt, und man kommt nicht mehr ran. Da war klar, dass wir mehr Hilfe brauchten, andere Hilfe.“Worin besteht das Besondere von MAP? In der Hilfe, in Worte zu fassen, was der Betroffene nicht äußern kann und so peu à peu herausholen, was sich in Überfülle innerlich angesammelt hat: Gerade Kinder, die eben nicht durch Konventionen und den „Filter der Vernunft“ nicht in ihrer Wahrnehmung gebremst oder kanalisiert werden, tun sich oft schwer damit, das zu äußern, was alles bei ihnen ankommt. Dennis wird getestet und bekommt das Ergebnis: Er ist überdurchschnittlich intelligent. Daran glaubt seine Mutter schon gar nicht mehr, ebenso wie viele Eltern, die über dem Verhalten ihrer Kinder nicht mehr deren wirkliche Fähigkeiten sehen. Die „andere“ Hilfe, die Dennis und seine Mutter suchen, besteht in einer vergleichsweise einfachen Begleitung, wie MAP sie bietet: Es geht darum, vom Inneren aus das bisherige Leben zu lesen und daraus Rückschlüsse für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen. Was Dennis und seine Mutter schmerzhaft empfinden: „Die Ärzte können die Patienten hier nur zurück auf ein Gleis stellen, bestenfalls, den Rest des Weges müssen sie allein bewältigen.“ Nach MAP ist dies keine Last, sondern schön, weil es Wachstum bedeutet, ein Gehen auf eigenen Beinen.

Dennis bekommt am Ende dieser Jahre zwischen Kliniken und Therapien die Diagnose: ADHS. Damit fühlt er und seine Mutter sich erleichtert: Immerhin weiß man jetzt, wie man „das“ bezeichnen soll, was Dennis „hat“. Und das gibt eine Sicherheit, die Dennis verloren hatte. Denn davon ausgehend beginnt interessanter Weise der Durchbruch: Dennis kann nämlich von Erlebnissen mit seinem Vater während der „Vater-Wochenenden“ sprechen, wovon er in all den Jahren nicht hat sprechen können. Und mehr zwischen den Zeilen steht: Dass er wahrscheinlich noch viel mehr miterlebt hat, was ihn innerlich blockiert hat. Für uns Therapeuten nach MAP beginnt hier eigentlich erst die Arbeit: Denn ADHS ist ein Sammelbegriff für sehr unterschiedliche Symptome, von den asymptomatischen Fällen wie Dennis gar nicht zu reden. Unser Ansatz verfolgt die Frage, in welchem/n Lebensmoment(en) eine solche Erschütterung des Selbstvertrauens begonnen hat, die sich durch eine permanente Unsicherheit und der Suche nach Kontrolle äußert. Also ein Gehen und Arbeiten an der Wurzel – immer von innen aus gelesen. Eine spannende, neue Herangehensweise an das sich immer weiterverbreitende Phänomen ADHS. Und viele andere Beeinträchtigungen, die man nur schwer etikettieren oder einsortieren kann, die aber Kinder, Jugendliche und ihre Familien oft in Verzweiflung stürzen. Eine nach außen hin sichtbare Reaktion, die plötzlich und scheinbar ohne rationale Erklärung beginnt. Dennis, der stellvertretend für so viele steht, kann geholfen werden. „„Kennst du mich noch?“, fragt ein Junge Dennis, als sie sich zum ersten Mal (nach dem gemeinsamen Klinikaufenthalt) auf dem Schulhof begegnen. „Na klar“, sagt Dennis.“ Denn in all dieser Zeit hat Dennis viel gelernt. Vor allem, wer er selbst ist. Dies kann man lernen, und mit der entsprechenden Herangehensweise vergleichsweise zügig.

Alle Zitate dieses Artikels sind entnommen: https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/wenn-das-kind-psychisch-erkrankt-odyssee-durch-die-kinderpsychiatrie-18952697.html, Zugriff am 19.6.2023.

Marie Bernadette Mauro

Schreibe einen Kommentar